Wenn ich an die Zeiten meiner Jugend zurückdenke, scheinen sie mir erfüllt von Strenge, Härte und Unerbittlichkeit. Dabei brauche ich nur an meinen Vater zu denken. Ein Patriarch, der geliebt, geehrt und gefürchtet war und eine unbedingte Autorität beanspruchte und somit eine höhere Welt repräsentierte, eine Welt, die ich mit Neid gesehen habe und diese Welt der Erwachsenen bewundert habe und andauernd diese Welt nachahmen wollte, obwohl ich mit den anfallenden Aufgaben kaum fertig wurde.
Es gab zwischen uns keine vorgetäuschten, sondern durchaus legitime Würden und sie sind bis heute bei mir wirksam. Die Leitbilder der jungen Generation, die Bilder, die mein Nachbar in seinem Kopf besitzt, sind infolge ihrer eigenen Hohlheit zusammengebrochen und haben eben als Idole versagt und sind in ihrer Wertung zu billig, um dem Lauf der Dinge gerecht zu werden.
Es war enttäuschend, meinen Nachbar an jedem Abend zu sehen, denn ich habe gehofft, von ihm ein paar Sätze zu hören, die mir ein Zeichen seiner Gefühle, Herzlichkeit und Verbindlichkeit geben. Aber sein Infantilismus und sogar seine Sprache, die das Verzeichnis der Infantilitäts-Symptome sich weiter fortsetzen ließen, blieben für mich närrischer Weise immer noch unfassbar, undenkbar und schwer verständlich.
Durchaus infantil fand ich bei meinem Nachbar, eine zeitgemäße Scheu vor Unterrichtung. Plötzlich war er müde und erschöpft als ich mit ihm gesprochen habe und er das Gefühl hatte, ich würde ihn belehren. Ich denke, reife und intelligente Menschen empfinden eine Lehre von einem Psychologen oder von den Gelehrten als Luxus und solche Menschen nichts eifriger suchen, als Leute, von denen sie noch etwas lernen können.
Mein Nachbar war anmaßend unreif. Ein Mann, der dreißig Jahre alt war und immer noch in der Pubertät hängen geblieben.
Es zeigte sich auch als ein Freund von meinem Nachbar, eine Bewerbung nach Wien als Butler schreiben sollte. Die ganze Zeit über war er außer sich vor Angst und er führte sich wie ein kleiner, unerfahrener Junge, der Hilfe braucht, und weil er wusste, dass ich erwachsen war, hat er mich um Korrekturen gebeten.
Kazuo Ishiguro beschreibt in seinem Roman „Was vom Tage übrig blieb“ einen Butler, der durch seine Selbstverleugnung als Butler sein Leben und seine Liebe versäumte.
Er stand an einem Abend hinter den Gästen, die Fasanen speisten als eine Küchenhilfe flüsterte ihm ins Ohr: „Ihr Vater liegt unten im Sterben. Kommen Sie schnell“.
Der Butler, Stevens ist nicht nach unten in den Keller gegangen und obwohl er wusste, dass er vielleicht sein ganzes Leben lang bedauern wird, seinem Vater die Hand nicht gegeben zu haben und das Gefühl wird ihn plagen, dass er eine Grausamkeit begangen hat und bald wird er völlig einsam sein, trotzdem stand er hinter selbstgerechten Menschen und Autoritäten, um nur seine Pflicht erfühlt zu müssen.
Eine philosophische Frage für einen Butler, wie weit die Vielfalt von seinen Aufgaben und seinen Pflichten sich ausdehnen und so weit gehen, dass er seinen Vater, der im Sterben liegt, vernachlässigt und sogar im letzten Moment, im Stich lässt.
Es war gar nicht mühsam für mich und es brachte nicht viel Arbeit mit sich, die Passage in die Bewerbung einzubauen und ich ahnte, diese Sequenz wird den jungen Bewerber in einer der oberen Anschauungen bringen und so wird er garantiert zum Vorstellungsgespräch eingeladen, denn kein Mensch von den jungen Bewerbern kennt das Buch oder hat je den Film gesehen und mit der Erwähnung wollte ich die Bewerbung einzigartig und besonders auffällig machen. Eine Art – Eyecatcher, die Menschen bezaubert und ins Gespräch bringt.
Nach einer Woche fühlte ich, wie es wirklich schön war, dem Mann geholfen zu haben und ihm die notwendigste Sache in die Bewerbung einzupacken und da ich an einem Abend sonst nichts zu tun hatte, ging ich gerade ganz früh schlafen, als mein Nachbar bei mir geklingelt hat.
Nur der arme Freund von meinem Nachbar war sicherlich trübsinnig an diesem Abend, denn diesem Mann ist nichts mehr übrig geblieben. Er wurde abgelehnt.
Ich war nicht glücklich als mein Nachbar mir die Nachricht an diesem Abend vor meiner Tür überbrachte.
„Nein! Er wurde nicht mal eingeladen? Obwohl er diese Passage aus dem Roman in der Bewerbung hatte?“
„Die Sache hat er in der Bewerbung nicht gehabt. Ich habe ihm gesagt, er soll es wegnehmen. Ich finde, das war zu viel. Das wollen die Leute nicht. Außerdem, ich wusste, dass er den Job ohnehin nicht bekommt. Er soll weiterhin als Buchhalter im Hotel arbeiten“.
An diesem Abend hätte ich zufrieden sein können, wäre es mir gelungen, die Gedanken an meinen Nachbar ganz auszuschalten, aber das gelang mir leider nicht.
Ein Samstag im August blieb schön und sonnig und ich wollte mir endlich nach den vielen harten Tagen, schnell wieder eine Freude machen und es war mir auch ganz recht so, an diesem warmen, sommerlichen Tag nicht im Hause zu bleiben, sondern ans Meer zu fahren.
Nur eine kurze Überlegung an die Hauseingangstür, die nicht geschlossen ist quälte mich jeden Tag und jeden Abend und vor allem, wenn ich wegfuhr und selbst wenn ich an die zwei Einbrüche denke, die in der letzten Zeit im Haus verübt wurden.
Ich hätte mich einfach nicht um die Tür gekümmert und die Angst um die Einbrüche vergessen und meinem Nachbar keine Vorwürfe machen, warum und wann oder wer die Hauseingangstür nicht abgeschlossen hat und warum das Haus in diese gefährliche Lage gekommen war.
Nach ein paar Minuten klingelte ich von unten bei meinem Nachbar.
„Sie haben die Eingangstür nicht abgeschlossen. Können Sie die Tür jetzt abschließen?“
„Ich habe vorhin Pakete bekommen“.
„Egal was Sie bekommen haben, die Tür unten muss geschlossen bleiben“.
„Ich war das nicht. Das war der Paketzusteller“.
„Das war aber Ihr Vorgang und Sie müssen die Sache zu Ende bringen und das bedeutet, die Tür abschließen“.
Ich weiß aber nicht einmal, ob das Verhalten von meinem Nachbar normal ist, aber er sagte plötzlich in die Sprechanlage:
„Aber du bist doch unten. Mach die Tür selbst zu. Oder fällt dir die Krone runter?“
Es war sonderbar für mich und sobald ich wieder an diesem Tag, ganz spät gegen zwanzig Uhr vor dem Haus angekommen war, stand die Hauseingangstür immer noch auf und ich dachte an das Haus schon wieder mit Furcht und vor allem, mit Widerwillen in das Haus zu kommen und in diesem Haus zu leben und ich kann mir bis heute nicht vorstellen, dass nur zwei Menschen in einem Haus wohnen und diese zwei Menschen solche Kriege führen.
Dies alles ängstigte mich sehr, weil ich es nicht begreifen konnte.
Seine Generation ist in einer Zeit des Wohlstands groß geworden und erlebten ein enormes Angebot an Schule, Ausbildung und Studium, obwohl mein Nachbar von diesen tollen Angeboten keinen Gebrauch machen wollte und nur ein paar Klassen in der Schule geschafft hat.
Nach dem zehnten August schien es mir, dass die Sachen eine Zeit lang still und gleichmäßig in dem Haus verlaufen. Es war für mich sehr beruhigend denn mein Blutdruck ist seit zwei Monaten schrecklich hoch und ich hatte immer Angst, eines Tages, einen Schlaganfall zu erleiden.
Leider gibt es keine vernünftige Regelung für solche bedauernswerte Menschen wie mein Nachbar, denn sie besitzen genauso wenig Verstand wie die Tiere, die ungefragt in dieses Leben geboren werden. Mein Nachbar kann sich, auch wie die Tiere, gegen den natürlichen Ablauf der Dinge nicht wehren. Seine Erziehung hat ihn böse und wenig liebenswert werden lassen.
Dabei wäre es möglich gewesen, anders zu leben und anders mit den Menschen umzugehen.
Ich kann es nicht verstehen, warum er den falschen Weg eingeschlagen hat und seit September veranstalte er in seiner Wohnung laute und betäubende Diskothek Partys und die schrecklich aufdringliche und widerliche Musik mit den Bässen, die er in einem Zimmer, neben meinem Schlafzimmer einschaltete, dröhnte und brummte mir bis in die Eingeweide und ich lag schlaflos bis fünf Uhr morgens und es gab für mich keine einzige Hoffnung auf eine bessere und ruhige Nacht.
Er war laut und brutal und ich wurde mehrere Male in der Nacht oder morgens früh aus dem Schlaf gerissen.
Immer wieder muss ich daran denken als ich ihn so oft angerufen habe, aber er ging nie ans Telefon, er hat seine Tür nie aufgemacht, antwortete nie wenn ich in der Nacht eine Nachricht geschrieben habe aber an einem Sonntag, um sieben Uhr früh war die Stunde sehr groß und die Sekunde meines Lebens festgehalten, denn mein Nachbar hat den Hörer abgenommen.
„Wer ist am Telefon? Ja. Die Musik ist zu laut. Da hast du vollkommen recht. Ich mache es im Laufe des Tages leise“.
Ich kann es alles nicht verstehen, aber ich weiß nur, dass es jetzt viel zu spät ist.
Es war fast unmöglich, in die Stille zwischen zwei Menschen in diesem Haus einzukehren.
Für mich war es hoffnungslos, mein einzelnes und abgesondertes Ich zu bleiben seit seinem Einzug und obwohl ich ein kleines, armes, eigensinniges Leben führen wollte und mich nicht in seine Gemeinschaft einfügen wünschte, versuchte mein Nachbar, mir meinen Stolz zu rauben und aus mir ein aufgeblasenes Nichts zu machen und dann, eine sehr armselige, abhängige und lächerliche Person.